„Niemand wird als Demokrat geboren“ – Zum 20. Tag der deutschen Einheit

An einem gewöhnlichen „Tag der deutschen Einheit“ schlafe ich, surfe im Internet oder bin ‐ wenn es das Wetter noch zulässt – draußen und genieße die letzten warmen Tage im Jahr. Denn am 3. Oktober bin ich meist sehr müde, denn ich nutze den Abend davor zum Weggehen und den deutschen Nationalfeiertag zum Ausschlafen. Welche Bedeutung der „Tag der deutschen Einheit“ hat, ist meiner Generation – den in den späten Achtziger Jahren und danach
Geborenen – kaum mehr bewusst.

mauerfall Ganz anders sieht es an den Nationalfeiertagen in Frankreich am 14. Juli oder am 4. Juli in den Vereinigten Staaten aus. Die Menschen nehmen dort an Paraden teil und feiern sich selbst und ihre Nation. Deutschland hat im Gegensatz zu Frankreich oder den USA keine demokratische Festkultur. Den Gründungstag der Bundesrepublik, den 23. Mai, feiern die Deutschen nicht mit einem großen Fest oder fühlen sich am 3. Oktober einer größeren
Gemeinschaft zugehörig.

Deutschland hat seit 1945 zwei große Leistungen vollbracht: Die Demokratisierung einer Gesellschaft, die zwölf Jahre lang in einem totalitären System lebte, und die friedliche Revolution von 1989. Doch es fehlt das Bewusstsein für die enorme und bewundernswerte Entwicklung, die das Land in den vergangenen über 60 Jahren durchgemacht hat. Ein totalitärer, faschistischer Staat, den die Mehrheit der Bevölkerung unterstützte, wurde zu einer Demokratie. Aus Menschen, die ihrem Führer in einen Krieg folgten, der 55 Millionen Menschen das Leben kostete und mit dem Holocaust eine systematische Ermordung von Juden, Homosexuellen, Sinti und Roma und politischen Gegnern betrieb, wurden liberale Demokraten. Dieser bewundernswerte Kraftakt – die Metamorphose des nationalsozialistischen Dritten Reiches zur Bundesrepublik Deutschland mit freiheitlich‐demokratischer Ordnung – war das eigentliche Wunder der Nachkriegszeit. Dabei hat natürlich das Wirtschaftswachstum in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts enorm geholfen: Ein voller Magen, eine warme Stube und das erste Auto waren die besten Argumente gegen Hitler und den Nationalsozialismus und für ein demokratisches Nachkriegsdeutschland. Das Stigma des Nationalsozialismus haftet den Deutschen heute höchstens noch im persönlichen Austausch an. Der Staat Deutschland ist rehabilitiert, in die internationale Staatengemeinschaft integriert und hat ein gutes Verhältnis zu Israel. Mehr noch: Die Bundesrepublik ist eine der tragenden Säulen der Europäischen Union.

Der zweite große Erfolg in der deutschen Nachkriegsgeschichte ist die Wiedervereinigung von West‐ und Ostdeutschland. In meiner Generation erinnert sich niemand mehr an die Zeit des Eisernen Vorhangs in Europa. Daran, dass Deutschland geographisch an der Grenze zweier Systeme lag, wo der Kalte Krieg immer ein bisschen wärmer gewesen war: Auf dem Boden des ehemaligen gemeinsamen Feindes während des 2. Weltkriegs standen sich die USA und die Sowjetunion bis an die Zähne bewaffnet gegenüber. Das deutsche Volk war geteilt, im Westen lebten die Menschen in einer sozialen Marktwirtschaft, im Osten in einem sozialistischen Arbeiter‐ und Bauernstaat. Unvorstellbar war es damals für die meisten, dass es wieder ein vereintes Deutschland geben könnte. Unvorstellbar ist es für mich, dass es jemals eine Teilung gab. Bei der Wiedervereinigung ist nicht alles glatt gegangen, doch dürfen finanzielle Nachteile nicht die Großartigkeit dieses Ereignisses – eine friedliche Revolution – überschatten.

Erinnerungskultur statt Festkultur

Deutschland im 21. Jahrhundert hat keine demokratische Festkultur, sondern eine Erinnerungskultur. Es gibt wohl kaum einen Staat, der sich seiner Verbrechen gegen andere so klar bewusst ist und die Verantwortung dafür übernommen hat. Wir gelten als vorbildlich was die Aufarbeitung der Nazi‐Vergangenheit betrifft. Es ist zweifellos gesellschaftlicher Konsens, dass es zu einer solchen Diktatur niemals wieder kommen darf. Dafür gibt es Gedenktage und Geschichtsunterricht. Kaum ein Jugendlicher verlässt die
Schule ohne mindestens einmal in einem Konzentrationslager gewesen zu sein.

Deutschland hat auch deshalb hauptsächlich Gedenktage, weil es lange nichts zu feiern gab. Stattdessen haben wir uns der unrühmlichen Vergangenheit des deutschen Volkes erinnert: Die Anzettelung zweier Weltkriege, die Europa die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in ein Schlachtfeld sondergleichen verwandelte und Millionen von Menschen das Leben kostete und Hass und Gewalt verbreitete. Es galt daraus Lehren zu ziehen. Wie bei einer erfolgreichen Psychotherapie lernte die deutsche Bevölkerung den Wahnsinn der Nationalsozialisten und ihr eigenes Zutun zu reflektieren und ihr Verhalten und ihre Einstellungen zu ändern.

Doch sich erinnern heißt auch, sich die positiven Dinge ins Gedächtnis zu rufen und nicht nur die Katastrophen. Denn bis heute, dem Jahr 2010, 82 Jahre nach Ende des 1. Weltkriegs, 65 Jahre nach Ende des Zweiten, hat sich Deutschland im Großen und Ganzen zum Guten entwickelt: In kaum einem anderen Land können heute die Menschen freier leben als hier. Natürlich gibt es Raum für Verbesserungen, doch wir sollten das als Herausforderung sehen, die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass in Zukunft alle Menschen so frei wie möglich und ohne Diskriminierung zusammenleben können.

Braucht Deutschland also eine demokratische Festkultur? Ja. Denn so wie Deutschland aus seiner Rolle in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelernt hat, sollten aber auch an die positiven Entwicklungen seit 1945 gegenwärtig sein. Eine demokratische Festkultur heißt aber nicht große Paraden, nationalistisches Gebären oder zur Schau gestellter Patriotismus, sondern das Wissen und das Bewusstsein um die Entwicklung Deutschlands und seiner wichtigen und verantwortungsvolle Rolle in der Welt. Doch mit einer rein deutschen Festkultur ist es nicht getan. Deutschland, so wie es heute existiert, ist ohne die Europäische Gemeinschaft und die Europäische Union unvorstellbar.

Doch das feierliche Gedenken und Erinnern an wichtige geschichtliche Ereignisse ist nur eine Seite der Medaille, nämlich die der Emotionen. Auf der anderen steht die politische Bildung, die rationale Seite. Denn in Deutschland gibt es ein Dilemma: Demokratie ist oft gleichbedeutend mit Wohlstand. Der Schweizer Journalist Sascha Buchbinder formuliert das folgendermaßen: „Deutschland machte Schluss mit der Droge Nationalismus, dem die Gesellschaft so fatal verfallen war und begnügte sich mit dem Stolz auf seine wirtschaftliche Tüchtigkeit.” Nach der Wende wurde deutlich was das heißt: Im Unterschied zu Westdeutschland in der Nachkriegszeit fehlte in den 1990er Jahren der wirtschaftliche Fortschritt als Schmiermittel für die Akzeptanz der Demokratie als das bessere Regierungssystem in der ehemaligen DDR.

Denn die größte Gefahr für die Demokratie sind im 21. Jahrhundert nicht in erster Linie extrem rechtes und linkes Gedankengut, sondern die Politikverdrossenheit weiter Teile der Bevölkerung. 2006 antworteten erstmals 51 Prozent bei einer Befragung, dass sie mit der demokratischen Regierungsform unzufrieden sind. „Die Frustration steigt, je verständnisloser und uninformierter die Bürger der Politik gegenüberstehen“, schreibt Franz Walter vom Göttinger Institut für Demokratieforschung. Die Politik habe sich in den vergangenen Jahren von der Gesellschaft entkoppelt. Der Schlüssel, um sie wieder
zusammenzuführen, liegt in der politischen Bildung.

Die fetten Jahre sind vorbei

2010 ist gesellschaftliche Stimmung schlecht. Seit zwanzig Jahren sind die fetten Jahre vorbei. Erst belasten die Kosten der Wiederveinigung die Staatskasse, dann brach der Anfang der Nullerjahre die „New Economy“ zusammen und gab einen kleinen Vorgeschmack auf die Finanz‐ und Wirtschaftskrise ab 2007. Dazwischen gab es den 11. September, einen seit acht Jahren andauernder Krieg in Afghanistan, bei dem die Bundeswehr involviert ist und das militärische Desaster der Amerikaner und ihren Verbündeten im Irak. Der Klimawandel überschattet langsam, aber stetig die Erde. In Deutschland weitet sich die Schere zwischen arm und reich immer mehr. Dem Kollaps des Finanzsystems folgt eine bis dato unvorstellbare Wirtschaftkrise, die auch die europäische Gemeinschaftswährung bedroht. Meine Rente ist nicht sicher.

Gerade in Zeiten negativer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen ist Vertrauen in die Demokratie absolut notwendig. Hier zeigt sich die Gefahr, wenn lange Zeit die Gleichung „Demokratie gleich Wohlstand“ galt, diese aber plötzlich nicht mehr aufgeht. Demokratie ist natürlich mehr als der Kontensaldo. Doch worauf stolz sein, wenn es mit der „wirtschaftlichen Tüchtigkeit“ nicht mehr so weit her ist? Schließlich sind die Chinesen Exportweltmeister und das Bruttoinlandsprodukt sank allein im Jahr 2009 um fünf Prozent.

Zum Beispiel darauf, dass Deutschland einer der fortschrittlichsten Staaten der Welt ist, auf ein Grundgesetz, das jedem Bürger die Grundrechte garantiert oder eine liberale und tolerante Gesellschaft. Darauf, dass es gelang zwei totalitäre Staaten, die Teilung und den Kalten Krieg friedlich zu überwinden. Darauf, dass es kein anderes praktikables politisches System gibt, bei dem der Einzelne so viele Partizipationsmöglichkeiten hat, und dass Demokratie nichts anderes heißt als „Herrschaft des Volkes“. „Denn Demokratie“, so Gerhard Himmelmann, Professor für Politische Wissenschaft und Politische Bildung, in seinem Plädoyer für ‚Demokratie als Lebensform‘, „ergibt sich nicht naturwüchsig, niemand wird als Demokrat geboren. Jede Generation muss neu daran gewöhnt werden und entsprechende Erfahrungen – auch im Kleinen ‐ sammeln.“

Ich möchte auch in Zukunft noch am Morgen des 3. Oktober aufwachen und an einen tollen Abend mit meinen Freunden denken. Aber ich möchte auch, dass der Grund, warum ich ausschlafen kann – die Wiedervereinigung ‐ stärker in meinem Bewusstsein ist. Und in dem aller Menschen, die in diesem Land leben: Es muss in die Köpfe der Deutschen – besonders derjenigen, die den Kalten Krieg nicht mehr oder nicht mehr bewusst miterlebt haben ‐, dass der Mauerfall nicht nur eine große Party an einer außergewöhnlichen Location war, sondern das gewaltlose Ende eines totalitären Regimes.

(Foto unter Creative-Commons Lizenz)

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